Liebe Alle,
Da in Sachen documenta fifteen inzwischen schon einiges medial formuliert wurde, was sich in der Realität vor Ort in Kassel ganz anders darstellt, hier meine aktuelle Einschätzung:
Ich bin weiterhin sehr froh, Teil dieser äußerst wichtigen, hochspannenden und herausfordernden Ausstellung zu sein und freue mich sehr über den regen Austausch mit der halben Welt vor Ort. Dieser gestaltet sich ganz diametral zu den einschlägigen Mediendarstellungen weiterhin sehr intensiv, unglaublich vielfältig, ästhetisch genussvoll, entspannt, optimistisch und freundschaftlich.
Aus meiner Sicht dreht sich die aktuelle mediale Diskussion längst in ihrer selbstgewählten Blase, die mehr und mehr den Kontakt zur Realität der Ausstellung verliert. Während diese Diskussion vorwiegend in den Leitmedien pausenlos versucht, den wichtigen Antisemitismus-Diskurs zu instrumentalisieren, um sich nicht mit den zentralen, oft unangenehmen wie hochspannend vorgestellten Themen des globalen Südens auseinandersetzen zu müssen, machen die Menschen und das Publikum genau das richtige: Sie fahren nach Kassel und bilden sich ihre eigene Meinung, die in der großen Mehrheit begeistert, nachdenklich selbstkritisch und äußerst reflektiert ausfällt. Die durchweg gute, angenehm offene und kollegiale Atmosphäre und die vielen Besucher:innen vor Ort stimmen mich mehr als zuversichtlich, dass sich die philanthrope Realität der Schau gegenüber der xenophoben, virtuellen Debatte rechtskonservativer Prägung durchsetzen wird.
Im Übrigen sollten wir einmal darüber nachdenken, wie wir hierzulande mit unseren Gästen umgehen. Es ist einfach skandalös, wie diejenigen, die wir aus aller Welt zu uns eingeladen haben, jetzt mit bodenlosen Verallgemeinerungen ganz unschuldig in den Dunstkreis von Antisemitismus gerückt werden. Dass Regierungsmitglieder, Kunsthistoriker:innen und sogar eine teilnehmende Künstlerin dies unwidersprochen hinnehmen, teilen oder noch forcieren ist unerträglich.
Ich möchte dagegen hier all jenen aus ganzem Herzen danken, die aus aller Welt zu uns gekommen sind, um ihr Wissen, ihre Ideen und Perspektiven mit uns zu teilen – und dies trotz all der Verdächtigungen und dem arroganten, herabwürdigenden Ton, mit dem ihnen hier teilweise begegnet wird, weiterhin tun. Ich entschuldige mich auch ausdrücklich für das in meinen Augen vollkommen unakzeptable Verhalten eines Landes, das es eigentlich besser wissen sollte.
Mein letzter Dank für heute gilt dem Künstler:innenkollektiv ruangrupa, das sicher einiges nicht richtig, das Wichtigste aber richtig gut gemacht hat. Sie haben unter schwierigsten Bedingungen (z. Bsp. der Coronakrise) eine hochkomplexe wie hochästhetische Ausstellung aus aller Welt zu uns gebracht, in der der sog. globale Süden vielleicht das erste Mal in solch umfassender Weise ganz 1:1 für sich selbst spricht. Eine Ausstellung, in der die Möglichkeiten von Kunst und Kultur auch als Form des Protests, des Aktivismus und des selbstbestimmten Handelns gezeigt wird. Eine Ausstellung, in der die Hegemonie westlicher Definitionsmacht massiv in Frage gestellt wird, und Kunst wieder als freies gesellschaftliches Agens, als gemeinschaftliches Potenzial und geteilte Praxis freigesetzt wird. Eine Ausstellung, in der Kunst als Lebens- und Gesellschaftspraxis die klassischen Formen der Kunst ergänzt, inspiriert und erweitert. Eine Ausstellung, die die Multiperspektivität der Welt in den Fokus rückt. Eine Ausstellung, die sich gegen die neurotische Angst xenophober Autoritätsdiskurse als menschenfreundliches Treffen der Weltgemeinschaft entwirft. Eine Ausstellung, die hochästhetisch, bildintensiv und emotional, aber auch politisch, sozial und diskursiv zugleich ist. Eine Ausstellung, die Kuratorenschaft teilt, ergebnisoffenes Arbeiten im großen Stil ermöglicht und verantwortet, das erste Mal Künstler:innenhonorare zahlt, Künstler:innen höchste Werkautonomie zugesteht, die Ausstellung zum Arbeitsprozess statt zum Kunstmarkt macht, klassische Rankings unterminiert und, und, und…eine Ausstellung, über die man sich streiten kann.
All das wird aktuell noch durch die oft manische Fokussierung und Instrumentalisierung des so wichtigen Antisemitismus-Diskurses verdeckt. Ich hoffe sehr, dass wir bald endlich dazu kommen, all die wichtigen und teils hochprekären Themen, die hier von der internationalen Gemeinschaft so intensiv wie gelassen, existenziell wie humorvoll, ästhetisch wie optimistisch, besonders aber: ganz ohne Anklage vorgestellt werden, auch auf breiter Ebene diskutieren können. Daß wir darüber diskutieren können, wie der industrielle Norden die Länder Afrikas auf verschiedensten Ebenen als Müllhalde missbraucht und wie man das anders machen kann. Dass wir mehr erfahren darüber, wie der globale Süden heute mit den Folgen Jahrhunderte langer Kolonialherrschaft umgeht. Dass wir darüber sprechen, wie die Zerstörung ganzer Länder durch Landnahme und die Ausbeutung ihrer Reccourcen gestoppt werden kann. Dass wir hören, wie andere Menschen mit den Spannungsfeldern zwischen lokalen und globalen Ansprüchen umgehen und vielleicht lernen, wie man andere Formen des Teilens von Wissen, Reccourcen und Zukunft entwickeln kann. Dass wir all jenen zuhören, von denen wir noch gar nichts wissen.
Diese wenigen rudimentären Beispiele aus der schier endlosen Palette von Themen reißen nur maginal an, was uns entgeht, wenn wir uns nicht endlich dazu entscheiden, den vielen Akteur:innen dieser documenta zuzuhören, anstatt uns ewig um uns selbst zu drehen. Ich persönlich bin so oft wie möglich in Kassel - und kann das allen nur empfehlen.
Markus Ambach
P.S.: Anbei eine kleine Sammlung für mich lesenswerter Texte und Beiträge zum Thema Antisemitismus auf der documenta
Iris Dressler zur documenta fifteen:
https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/587/wider-die-pauschale-verurteilung-8274.html
Die israelische Autorin Shani Littmann in der israelischen Tageszeitung Haaretz und der Arbeit von Taring Padi:
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/israelische-autorin-zu-documenta-antisemitismus-streit-verdeckt-wichtigeres-li.241007?utm_source=0101+on+art+Presseschau%2FNewsletter&utm_campaign=738ced7384-EMAIL_CAMPAIGN_2022_06_28_09_23_COPY_01&utm_medium=email&utm_term=0_a03a6fec81-738ced7384-95311697
Unbedingt lesen: Begründung der Absage von Meron Mendel:
Er attestiert der Geschäftsführung Schormann neokoloniales Verhalten und nimmt das Kuratorenteam ruangrupa in Schutz
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/meron-mendel-ueber-documenta-ein-eigentor-nach-dem-naechsten-geschossen-li.244942
zum Thema 180- Grad-Wende bei Presse und anderen
https://www.hna.de/kultur/documenta/documenta-fifteen-in-den-medien-um-180-grad-gekippt-91638175.html
Dear All,
Since a lot has already been said in the media about documenta fifteen, which is quite different in reality on site in Kassel, here is my current assessment:
I continue to be very happy to be part of this extremely important, highly exciting and challenging exhibition and am very pleased about the lively exchange with half the world on site. This continues to be very intense, incredibly diverse, aesthetically pleasurable, relaxed, optimistic and friendly, quite diametrically opposed to the relevant media portrayals.
From my point of view, the current media discussion has long been spinning in its self-imposed bubble, losing more and more contact with the reality of the exhibition. While this discussion, mainly in the leading media, tries non-stop to instrumentalize the important discourse on anti-Semitism in order not to have to deal with the central, often unpleasant as well as highly excitingly presented issues of the global South, the people and the audience do exactly the right thing: they go to Kassel and form their own opinion, which in the vast majority turns out to be enthusiastic, thoughtfully self-critical and extremely reflective. The consistently good, pleasantly open and collegial atmosphere and the many visitors on site make me more than confident that the philanthropic reality of the show will prevail over the xenophobic, virtual debate of right-wing conservatism.
By the way, we should think about how we treat our guests in this country. It is simply scandalous how those whom we have invited to us from all over the world are now being innocently dragged into the vapor of anti-Semitism with bottomless generalizations. The fact that members of the government, art historians and even a participating artist accept, share or even push this unchallenged is intolerable.
I would like to thank from the bottom of my heart all those who have come from all over the world to share their knowledge, ideas and perspectives with us. I also thank you for still being here and continuing to share your thoughts with us, despite all the suspicions and the arrogant, belittling tone with which you are often met here. And I expressly apologize for what I see as completely unacceptable behavior from a country that should know better.
My last thanks for today go to the curatorial collective ruangrupa, who certainly did some things not right, but the most important things really well. Under the most difficult conditions (e.g. the Corona crisis) they have brought to us a highly complex and highly aesthetic exhibition from all over the world, in which the so-called global south speaks for itself perhaps for the first time in such a comprehensive way. An exhibition in which the possibilities of art and culture are also shown as a form of protest, activism and self-determined action. An exhibition in which the hegemony of Western defining power is massively challenged, and art is once again released as a free social agent, a communal potential and shared practice. An exhibition in which art as a practice of life and society complements, inspires and expands the classical forms of art. An exhibition that brings into focus the multi-perspectivity of the world. An exhibition that designs itself against the neurotic fear of xenophobic discourses of authority as a philanthropic meeting of the world community. An exhibition that is highly aesthetic, image-intensive and emotional, but also political, social and discursive at the same time. An exhibition that shares curatorship, makes open-ended work possible on a grand scale and takes responsibility for it, pays artists' fees for the first time, grants artists the highest degree of autonomy, turns the exhibition into a working process instead of an art market, undermines classical rankings, and, and, and...an exhibition that can be argued about.
All of this is currently still obscured by the often manic focus on and instrumentalization of the all-important discourse on anti-Semitism. I very much hope that we will soon finally be able to discuss on a broad level all the important and sometimes highly precarious topics that are presented here by the international community as intensively as calmly, existentially as humorously, aesthetically as optimistically, but especially: completely without accusation. That we can discuss how the industrial North abuses the countries of Africa on various levels as a dumping ground and how this can be done differently. That we learn more about how the global South is dealing with the consequences of centuries of colonial rule. That we talk about how the destruction of entire countries through land grabbing and the exploitation of their resources can be stopped. That we hear how other people deal with the tensions between local and global claims and perhaps learn how to develop other forms of sharing knowledge, resources and future. That we listen to all those about whom we know nothing yet.
These few rudimentary examples from the almost endless palette of topics only maginally touch on what we will miss if we do not finally decide to listen to the many actors of this documenta instead of forever revolving around ourselves. Whoever does not see this show does not know what it is and disqualifies himself for the discourse about it. Personally, I am in Kassel as often as possible - and I can only recommend this to everyone.
Markus Ambach
P.S.: Enclosed is a small collection of texts and contributions on the subject of anti-Semitism at the documenta that I think are worth reading
Iris Dressler on documenta fifteen
https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/587/wider-die-pauschale-verurteilung-8274.html
The Israeli author Shani Littmann in the Israeli daily Haaretz on the work of Taring Padi:
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/israelische-autorin-zu-documenta-antisemitismus-streit-verdeckt-wichtigeres-li.241007?utm_source=0101+on+art+Presseschau%2FNewsletter&utm_campaign=738ced7384-EMAIL_CAMPAIGN_2022_06_28_09_23_COPY_01&utm_medium=email&utm_term=0_a03a6fec81-738ced7384-95311697
Must read: Reasons for cancellation by Meron Mendel:
He attests to Schormann's management's neocolonial behavior and takes the curatorial team ruangrupa's side
https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/meron-mendel-ueber-documenta-ein-eigentor-nach-dem-naechsten-geschossen-li.244942
on the subject of the 180-degree turnaround in the press and others
https://www.hna.de/kultur/documenta/documenta-fifteen-in-den-medien-um-180-grad-gekippt-91638175.html
Ein Projekt von
mit Renée Tribble/TU Dortmund
und den Initiativen von Kassel Ost