Unter Schafen
Fuldaaue
LANDSCHAFTSPFLEGE Die Schäferei ist heute in aller Munde – und dies kurz vor ihrem kompletten Verschwinden aus der Landschaft. Dabei spielen weiterhin mehr die Märchen und Mythen eine tragende Rolle als die nackte Realität derer, die dem traditionsreichen Geschäft nachgehen.
In den Fuldaauen sieht man noch des Öfteren die Schafherde von Hubertus Dissen, dem letzten Schäfer von Kassel. Im gesamten Stadtgebiet sorgen seine Herden dafür, dass die Landschaft als solche sichtbar bleibt und nicht hinter dem Wildwuchs verschwindet.
Zur nackten Realität gehört heute, so Dissen, dass die Schäferei allein von der Landschaftspflege lebt und die Tiere mehr als Rasenmäher fungieren denn als Wollproduzenten. Damit gehen sie trotz allem ihrer traditionellen kulturellen Arbeit nach. Denn der englische Landschaftsgarten als bis heute weiterhin oft präferierte Form öffentlicher Naturdarbietung in Gärten, Parks und urbanen Räumen ist ohne das pflegende Werk der Schafe nicht denkbar. Der anmutige Kontrast zwischen weiten Matten und verwunschener wie subtil domestizierter Natur war schon damals ohne die pflegerische Tätigkeit der Tiere undenkbar.
ROMANTIK Auch im Sinne romantischer Landschaftsdarstellung spielen Schaf und Schäfer eine tragende Rolle. Wo sich Landschaft als großer Prospekt zwischen Mensch und Natur entrollt, dient deren Bild als befriedendes Verbindungsglied zwischen den so unterschiedlichen Parteien. Dem Schäfer und seiner Herde kommt dabei die dankbare Zwischenposition zu – gleichsam die Personifizierung der Befriedung des Konflikts zwischen Mensch und Natur.
WOLLE ALS SONDERMÜLL Dass die Wolle der Schafe im täglichen Geschäft kaum eine Rolle mehr spielt, da es in ganz Europa heute keinen einzigen weiterverarbeitenden Betrieb gibt, ist kaum einem bekannt. Genauso wenig der fatale Umstand, dass heute für das Kilo Rohwolle, wenn überhaupt, nicht mehr als um die 12 Cent pro Kilo gezahlt wird und dass sie sogar – staatlich als Sondermüll klassifiziert – teuer entsorgt werden muss.
GOLDENES VLIES So suchen engagierte Freunde der Tiere nach Wegen, die Schäferei als klassische Kultur- und Agrartechnik wieder lukrativ zu machen. Dies zeigt sich in verschiedenen Versuchen, das günstige Material Rohwolle alter- nativ einzusetzen. Schon die Mythologie vom Goldenen Vlies verweist weit zurück auf eine Praktik aus Georgien, in der Wolle genutzt wurde, um feinen Goldstaub aus den Bächen zu waschen. Heute gibt es wissenschaftliche wie künstlerische Versuche, wie die der Künstlerin Folke Köbberling, das Material als Wärmedämmung, Futtermittel, Biodünger oder Feinstaubfilter einzusetzen.
HEIDSCHNUCKEN Davon erzählen auch Birgitta und Charly, die gleich neben den Weiden von Hubertus Dissen ganz stadtnah in ländlicher Idylle inmitten der Fuldaauen leben. Ihr Haus kündet von einer langen Geschichte der Transformation vom Forst- zum Wohnhaus. Die beiden bilden in der Erzählung dieser lokalen Landschaft beispielhaft für viele Unterneustädter:innen eine Brücke zwischen Tradition und offener Zukunft, die sich in einem naturnahen Lebensstil mit ganz urbanen Tätigkeitsfeldern andeutet. Als Grafikerin und Schreinermeister nutzen die beiden ihr Terrain, um mit einiger Bescheidenheit neue Wege in eine andere Zukunft zu gehen. Bei Wildsalat und Local Beer erzählen sie von ihrem politischen Engagement in grünem Aktivismus und dem Versuch, ihre Vorstellungen auch in die Politik zu tragen.
Dass hinterm Haus eine kleine Herde zottiger Heidschnucken grast, verbindet sie mit Hubertus Dissen und der lokalen Landschaft. Die besonderen Schafe mit den pittoresk gekrümmten Hörnern und dem äußerst freundlichen Charakter gehören eigentlich nicht hierher. In der Lüneburger Heide beheimatet, ist der Boden für ihre Hufe eigentlich zu weich und für ihren langen Darm das Gras zu fett, weiß Charly, der sich schon seit Jahrzehnten mit der Schaftzucht beschäftigt. Wo Hubertus Dissen als klassischer Schäfer nicht ganz unberechtigt den Hobbyfaktor wittert, ist diese Schafsherde aber als berechtigter Schritt in die aktuelle Gesellschaft zu sehen, die viel mehr von Narrativen und Mythenschreibung lebt denn von Hard Facts. Der Versuch, den Kontakt zwischen einer immer weiter entfremdeten Menschheit und einer zurückgedrängten Natur nicht abreißen zu lassen, umfasst sowohl den taktilen Umgang mit Flora und Fauna, wie er hier von den beiden gelebt und geteilt wird, als auch die Vermittlung ambivalenter Verhältnisse wie jener zwischen Schaf und Wolf. Dass die Schafe von Birgitta und Charly ominöse Namen wie „Mini- Lissitzky“ oder „Herr Schlemmer“ tragen, zeigt nicht nur in der documenta-Stadt, dass der Humor und die Graustufen im komplexen Verhältnis zwischen Mensch, Kultur und Natur eine ganz bedeutende Rolle.
Among Sheep
Fuldaaue
LANDSCAPING Everybody is talking about sheep farming these days—shortly before it disappears from the landscape completely. Fairy tales and myths continue to play a more important role than the stark reality of those pursuing this traditional livelihood.
In the Fuldaaue you can still frequently see the herd belonging to Hubertus Dissen, the last shepherd of Kassel. Throughout the city, his herds ensure that the landscape remains visible as such and does not disappear behind the uncontrolled growth of vegetation.
According to Dissen, the stark reality is that sheep farming today is only surviving as a form of landscape maintenance and that the animals currently function more as lawnmowers than as wool producers. In spite of this, they go about their traditional cultural work. After all, the English landscape garden, which is still the preferred form for public displays of nature in gardens, parks, and urban spaces, would be inconceivable without the maintenance carried out by the sheep. Even during its heyday, the graceful contrast between wide meadows and an enchanted yet subtly domesticated nature would have been unthinkable without the attentive grazing of the animals.
ROMANTIC Sheep and shepherds also play a leading role in the romantic representation of the landscape. Where landscape unfolds as a large panorama between humanity and nature, their image serves as a pacifying link between the disparate parties. The shepherd and their flock occupy a privileged intermediate position, personifying the resolution of the conflict between humanity and nature.
WOOL AS SPECIAL WASTE Few people are aware that wool barely plays a role in the day-to-day activities of sheep farmers, as there is no longer a single processing plant left in the whole of Europe. Nor are they aware of the disastrous fact that the price for raw wool is no more than around 12 cents per kilo, if that, or even that most of it must—given its national classification as special waste—be disposed of very expensively.
GOLDEN FLEECE Dedicated animal advocates are looking for ways to make shepherding lucrative again as a classic cultural and agricultural technique, which is evidenced by the various attempts to find alternative uses for raw wool, given that it is such an inexpensive material. Even the mythology of the golden fleece originates from a practice in Georgia in which wool was used to trap fine gold dust from streams. To- day, there are both scientific and artistic attempts, like that of artist Folke Köbberling, to use the material as thermal insulation, animal feed, or fine dust filters.
HEIDSCHNUCKE Birgitta and Charly, who live right next to Hubertus Dissen’s pastures in a rural idyll in the middle of the Fuldaaue, also share this experience. Their home tells a long story of transformation from a forester’s lodge to residential house. In the narrative of this local landscape, the two of them exemplify for many Unterneustadt residents a bridge between tradition and an open future, signified by a nature-oriented lifestyle with wholly urban fields of activity. As a graphic designer and master carpenter, the two use their terrain to humbly forge new paths toward a different future. Over wild lettuce and local beer, they talk about political engagement, the activities in the Green Party, and the attempt to bring their ideas into politics.
A small herd of shaggy Heidschnucke sheep grazing behind the house connects them to Hubertus Dissen and the local landscape. These unusual sheep with picturesque curved horns and an extremely friendly character do not actually belong here. Native to the Lüneburg Heath, the soil here is too soft for their hooves and the grass too fat for their long intestines, as Charly knows well, having been involved in sheep rearing for decades. While a traditional shepherd such as Hubertus Dissen might—not entirely unjustifiably—detect a hobby element, this flock of sheep, however, should be viewed as a justified step into modern society, which thrives on narratives and myth-making much more than hard facts. The attempt to maintain contact between an increasingly alienated humanity and a suppressed nature involves both tactile contact with flora and fauna, as it is lived and shared here by the couple, and the negotiation of ambivalent relationships such as the one between sheep and wolf. The fact that Birgitta and Charly’s sheep bear portentous names such as Mini-Lissitzky or Herr Schlemmer shows that humor and shades of gray play a very important role in the complex relationship between humanity, culture, and nature—and not just here in the city of documenta.
Unter Schafen
Fuldaaue
LANDSCHAFTSPFLEGE Die Schäferei ist heute in aller Munde – und dies kurz vor ihrem kompletten Verschwinden aus der Landschaft. Dabei spielen weiterhin mehr die Märchen und Mythen eine tragende Rolle als die nackte Realität derer, die dem traditionsreichen Geschäft nachgehen.
In den Fuldaauen sieht man noch des Öfteren die Schafherde von Hubertus Dissen, dem letzten Schäfer von Kassel. Im gesamten Stadtgebiet sorgen seine Herden dafür, dass die Landschaft als solche sichtbar bleibt und nicht hinter dem Wildwuchs verschwindet.
Zur nackten Realität gehört heute, so Dissen, dass die Schäferei allein von der Landschaftspflege lebt und die Tiere mehr als Rasenmäher fungieren denn als Wollproduzenten. Damit gehen sie trotz allem ihrer traditionellen kulturellen Arbeit nach. Denn der englische Landschaftsgarten als bis heute weiterhin oft präferierte Form öffentlicher Naturdarbietung in Gärten, Parks und urbanen Räumen ist ohne das pflegende Werk der Schafe nicht denkbar. Der anmutige Kontrast zwischen weiten Matten und verwunschener wie subtil domestizierter Natur war schon damals ohne die pflegerische Tätigkeit der Tiere undenkbar.
ROMANTIK Auch im Sinne romantischer Landschaftsdarstellung spielen Schaf und Schäfer eine tragende Rolle. Wo sich Landschaft als großer Prospekt zwischen Mensch und Natur entrollt, dient deren Bild als befriedendes Verbindungsglied zwischen den so unterschiedlichen Parteien. Dem Schäfer und seiner Herde kommt dabei die dankbare Zwischenposition zu – gleichsam die Personifizierung der Befriedung des Konflikts zwischen Mensch und Natur.
WOLLE ALS SONDERMÜLL Dass die Wolle der Schafe im täglichen Geschäft kaum eine Rolle mehr spielt, da es in ganz Europa heute keinen einzigen weiterverarbeitenden Betrieb gibt, ist kaum einem bekannt. Genauso wenig der fatale Umstand, dass heute für das Kilo Rohwolle, wenn überhaupt, nicht mehr als um die 12 Cent pro Kilo gezahlt wird und dass sie sogar – staatlich als Sondermüll klassifiziert – teuer entsorgt werden muss.
GOLDENES VLIES So suchen engagierte Freunde der Tiere nach Wegen, die Schäferei als klassische Kultur- und Agrartechnik wieder lukrativ zu machen. Dies zeigt sich in verschiedenen Versuchen, das günstige Material Rohwolle alter- nativ einzusetzen. Schon die Mythologie vom Goldenen Vlies verweist weit zurück auf eine Praktik aus Georgien, in der Wolle genutzt wurde, um feinen Goldstaub aus den Bächen zu waschen. Heute gibt es wissenschaftliche wie künstlerische Versuche, wie die der Künstlerin Folke Köbberling, das Material als Wärmedämmung, Futtermittel, Biodünger oder Feinstaubfilter einzusetzen.
HEIDSCHNUCKEN Davon erzählen auch Birgitta und Charly, die gleich neben den Weiden von Hubertus Dissen ganz stadtnah in ländlicher Idylle inmitten der Fuldaauen leben. Ihr Haus kündet von einer langen Geschichte der Transformation vom Forst- zum Wohnhaus. Die beiden bilden in der Erzählung dieser lokalen Landschaft beispielhaft für viele Unterneustädter:innen eine Brücke zwischen Tradition und offener Zukunft, die sich in einem naturnahen Lebensstil mit ganz urbanen Tätigkeitsfeldern andeutet. Als Grafikerin und Schreinermeister nutzen die beiden ihr Terrain, um mit einiger Bescheidenheit neue Wege in eine andere Zukunft zu gehen. Bei Wildsalat und Local Beer erzählen sie von ihrem politischen Engagement in grünem Aktivismus und dem Versuch, ihre Vorstellungen auch in die Politik zu tragen.
Dass hinterm Haus eine kleine Herde zottiger Heidschnucken grast, verbindet sie mit Hubertus Dissen und der lokalen Landschaft. Die besonderen Schafe mit den pittoresk gekrümmten Hörnern und dem äußerst freundlichen Charakter gehören eigentlich nicht hierher. In der Lüneburger Heide beheimatet, ist der Boden für ihre Hufe eigentlich zu weich und für ihren langen Darm das Gras zu fett, weiß Charly, der sich schon seit Jahrzehnten mit der Schaftzucht beschäftigt. Wo Hubertus Dissen als klassischer Schäfer nicht ganz unberechtigt den Hobbyfaktor wittert, ist diese Schafsherde aber als berechtigter Schritt in die aktuelle Gesellschaft zu sehen, die viel mehr von Narrativen und Mythenschreibung lebt denn von Hard Facts. Der Versuch, den Kontakt zwischen einer immer weiter entfremdeten Menschheit und einer zurückgedrängten Natur nicht abreißen zu lassen, umfasst sowohl den taktilen Umgang mit Flora und Fauna, wie er hier von den beiden gelebt und geteilt wird, als auch die Vermittlung ambivalenter Verhältnisse wie jener zwischen Schaf und Wolf. Dass die Schafe von Birgitta und Charly ominöse Namen wie „Mini- Lissitzky“ oder „Herr Schlemmer“ tragen, zeigt nicht nur in der documenta-Stadt, dass der Humor und die Graustufen im komplexen Verhältnis zwischen Mensch, Kultur und Natur eine ganz bedeutende Rolle.
Among Sheep
Fuldaaue
LANDSCAPING Everybody is talking about sheep farming these days—shortly before it disappears from the landscape completely. Fairy tales and myths continue to play a more important role than the stark reality of those pursuing this traditional livelihood.
In the Fuldaaue you can still frequently see the herd belonging to Hubertus Dissen, the last shepherd of Kassel. Throughout the city, his herds ensure that the landscape remains visible as such and does not disappear behind the uncontrolled growth of vegetation.
According to Dissen, the stark reality is that sheep farming today is only surviving as a form of landscape maintenance and that the animals currently function more as lawnmowers than as wool producers. In spite of this, they go about their traditional cultural work. After all, the English landscape garden, which is still the preferred form for public displays of nature in gardens, parks, and urban spaces, would be inconceivable without the maintenance carried out by the sheep. Even during its heyday, the graceful contrast between wide meadows and an enchanted yet subtly domesticated nature would have been unthinkable without the attentive grazing of the animals.
ROMANTIC Sheep and shepherds also play a leading role in the romantic representation of the landscape. Where landscape unfolds as a large panorama between humanity and nature, their image serves as a pacifying link between the disparate parties. The shepherd and their flock occupy a privileged intermediate position, personifying the resolution of the conflict between humanity and nature.
WOOL AS SPECIAL WASTE Few people are aware that wool barely plays a role in the day-to-day activities of sheep farmers, as there is no longer a single processing plant left in the whole of Europe. Nor are they aware of the disastrous fact that the price for raw wool is no more than around 12 cents per kilo, if that, or even that most of it must—given its national classification as special waste—be disposed of very expensively.
GOLDEN FLEECE Dedicated animal advocates are looking for ways to make shepherding lucrative again as a classic cultural and agricultural technique, which is evidenced by the various attempts to find alternative uses for raw wool, given that it is such an inexpensive material. Even the mythology of the golden fleece originates from a practice in Georgia in which wool was used to trap fine gold dust from streams. To- day, there are both scientific and artistic attempts, like that of artist Folke Köbberling, to use the material as thermal insulation, animal feed, or fine dust filters.
HEIDSCHNUCKE Birgitta and Charly, who live right next to Hubertus Dissen’s pastures in a rural idyll in the middle of the Fuldaaue, also share this experience. Their home tells a long story of transformation from a forester’s lodge to residential house. In the narrative of this local landscape, the two of them exemplify for many Unterneustadt residents a bridge between tradition and an open future, signified by a nature-oriented lifestyle with wholly urban fields of activity. As a graphic designer and master carpenter, the two use their terrain to humbly forge new paths toward a different future. Over wild lettuce and local beer, they talk about political engagement, the activities in the Green Party, and the attempt to bring their ideas into politics.
A small herd of shaggy Heidschnucke sheep grazing behind the house connects them to Hubertus Dissen and the local landscape. These unusual sheep with picturesque curved horns and an extremely friendly character do not actually belong here. Native to the Lüneburg Heath, the soil here is too soft for their hooves and the grass too fat for their long intestines, as Charly knows well, having been involved in sheep rearing for decades. While a traditional shepherd such as Hubertus Dissen might—not entirely unjustifiably—detect a hobby element, this flock of sheep, however, should be viewed as a justified step into modern society, which thrives on narratives and myth-making much more than hard facts. The attempt to maintain contact between an increasingly alienated humanity and a suppressed nature involves both tactile contact with flora and fauna, as it is lived and shared here by the couple, and the negotiation of ambivalent relationships such as the one between sheep and wolf. The fact that Birgitta and Charly’s sheep bear portentous names such as Mini-Lissitzky or Herr Schlemmer shows that humor and shades of gray play a very important role in the complex relationship between humanity, culture, and nature—and not just here in the city of documenta.
Ein Projekt von
mit Renée Tribble/TU Dortmund
und den Initiativen von Kassel Ost