Unsichtbar
Kassel Ost
PROSTITUTION Im pittoresken Umfeld der Fuldaauen gibt es neben klassischer Wohnbebauung, zahlreichen Autohändlern und Schrottplätzen auch solche Typologien, die sich meist in der latenten Unsichtbarkeit der urbanen Peripherie ansiedeln. Die Prostitution hat sich hier in Kassel Ost gut verteilt verschiedene Standorte speziell in Wohnungen gesucht. Dabei arbeiten die Frauen oft „von zu Hause aus“, wie man in der Szene lapidar hört. Corona hat diesen Trend noch verstärkt. Die Arbeitsbedingungen dieser heute nahezu ausschließlich aus Osteuropa stammenden Frauen bleiben dabei undurchsichtig, zweifelhaft und oftmals erschreckend.
Die Schwierigkeit, ein Thema wie Wohnungsprostitution im Rahmen eines Kunstprojekts zu adressieren, ist klar. Während sich in künstlerischen Recherchen meist nur profundes Halbwissen erarbeiten lässt, das der komplexen Situation der Frauen keinesfalls gerecht werden kann, darf die Ignoranz solcher städtischer Realitäten aber auch nicht die Lösung sein. Die Darstellung des Themas im städtischen Kontext stößt zudem auf Probleme der Ästhetisierung und des kulturellen Voyeurismus, der angesichts der drastischen menschlichen Schicksale keinesfalls angebracht ist. So bleibt zunächst nur der Austausch mit jenen, die sich im Stadtraum konkret mit den faktischen Problemen der Wohnungsprostitution auseinandersetzen.
PERSPEKTIVWECHSEL In zahlreichen Gesprächen mit Menschen in Kassel Ost, die sich in verschiedenster Weise mit den Problematiken im Umfeld dieses Gewerbes auseinandersetzen, tauchte immer wieder die Forderung nach einem Perspektivwechsel auf, der statt den Prostituierten die Freier fokussiert und in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bringt. Er fordert jene zu betrachten, die als Kunden mit ihren Bedürfnissen die Leistungen einfordern und dabei Märkte in ihren konventionellen wie abwegigsten Formen produzieren sowie durch Inanspruchnahme ökonomisch lukrativ machen. Dass dabei wiederum eine Bedürfnisindustrie im Hintergrund steht, kann nicht über die Selbstverantwortung der Freier hinwegtäuschen.
DARK KNOWEDGE Die angebotenen Leistungen spiegeln das Verlangen der Konsumenten und zugleich die dunklen Begierden der Stadt. Das Wissen um dieses Verlangen und die unausgelebten Bedürfnisse macht die Prostituierten vielleicht unfreiwillig zu Fachfrauen und -männern jener dunklen Urbanität. Ob diese Mutmaßung allerdings wiederum in das Reich der vielfältigen verklärten Projektionen männlicher oder abgründiger Natur gehört, ist zu diskutieren. Das unsichtbar gemachte Feld der sexuellen Dienstleistungen bleibt jedenfalls weiterhin ein Markt unser aller Projektionen, dessen man sich bewusst werden sollte.
EINER VON UNS Wenn wir den Blick umkehren – wie von vielen Streetworker:innen, Initiativen und sozialen Einrichtungen gefordert, die sich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen Prostituierter auseinandersetzen – und auf die Kundschaft richten, fällt ein Umstand besonders auf. Die Nachfrage im Sektor der Prostitution erhöht sich gerade während der documenta offenbar jeweils immens. Glaubwürdigen Erzählungen aus dem Milieu ist zu entnehmen, dass manche Prostituierte nur saisonal zur documenta anreisen, da die Nachfrage vom lokalen Segment dann kaum zu befriedigen ist. Dass gerade besonders abwegige Praktiken und Settings beim meist gutbürgerlichen Kulturpublikum besonders gefragt sind, verweist auf das oft scharf kontrastierte Verhältnis der Freier zu den Prostituierten. Latente Machtgefälle, exotische Sets und skurrile Örtlichkeiten steigern offenbar nicht nur das Lust- empfinden und katalysieren Probleme im eigenen Lebenskontext. Der abgerockte Ort, das schäbige Ambiente oder die Erniedrigungspraktiken der Freier erlauben diesen mutmaßlich auch, sich im Alltag von den eigenen Fantasien und Taten zu distanzieren.
Wo sich also in Kassel Ost hinter verschlossenen Türen auch jene in zweifelhaften Verhältnissen vergnügen, die tagsüber ganz als Du und Ich durch die kritischen Anmerkungen einer hochkultivierten Kunst flanieren, öffnen sich Gräben in einer Gesellschaft, die sich weiterhin in bigotter Janusköpfigkeit einer Ökonomie verschreibt, in der der Kunde König ist und die Bedingungen diktiert, unter denen die Mittellosen und im Schatten dieser Ökonomie Lebenden weiter leiden.
Invisible
Kassel Ost
SEX WORK In the picturesque surroundings of the Fuldaaue, alongside the classic residential developments, numerous car dealerships and junkyards, there are also the typologies that are usually located in the latent invisibility of the urban periphery. Here in East Kassel, the sex work industry has found various well-distributed locations, especially in apartments. Women in the industry therefore often work “from home,” as it is succinctly referred to by those in the scene. Covid-19 has intensified this trend. The working conditions of these women, now almost exclusively from Eastern Europe, remain obscure, spurious, and often frightening. The difficulty of addressing topics such as residential sex work in the context of an art project is clear. While artistic research usually only results in vague, superficial knowledge that can- not do any justice to the complex situation of these women, ignoring these urban realities cannot be the answer either. The presentation of the topic in an urban context also encounters problems of aestheticization and cultural voyeurism, which is by no means appropriate in view of these people’s drastic circumstances. Thus, for now, all that remains is an interaction with those who are tangibly dealing with the concrete problems of residential sex work in the city.
CHANGE OF PERSPECTIVE In numerous conversations with people in East Kassel who are dealing with the problems surrounding this trade in various ways, what frequently emerged was the demand for a change of perspective that focuses on the clients instead of the sex workers and brings them to the attention of the public. It requires us to consider those who, as customers with their needs, are demanding services and producing markets in their conventional as well as most aberrant forms, as well as making them economically lucrative through use. The fact that there is a needs-based industry behind this cannot draw a veil over the clients’ own responsibilities.
DARK KNOWLEDGE The services offered reflect the desires of the consumers and the dark appetites of the city. The knowledge of this desire and unfulfilled needs turns sex workers, perhaps involuntarily, into experts in this dark urbanity. However, whether this conjecture also belongs to the realm of the manifold glorified projections of a masculine, or abysmal nature remains open to debate. In any case, the invisible field of sexual services remains a market of all of our projections, which is something we should be aware of.
ONE OF US If we turn our gaze toward the clientele—as demanded by many street workers, initiatives, and social institutions that deal with the working and living conditions of sex workers—one fact is particularly striking: the demand for sex workers apparently increases immensely during documenta. Credible sources from the scene inform us that some sex workers only travel to the area during documenta, because local sex workers are barely able to meet the high level of demand. The fact that particularly deviant practices and settings are in particularly high demand among the mostly upper-middleclass cultural audience points to the often sharply contrasted relationship between the clients and the sex workers. Latent power imbalances, exotic sets, and bizarre locations evidently not only increase the sense of pleasure and catalyze problems in the clients’ own life context; the uninhibited location, the sordid atmosphere, and the clients’ degrading practices presumably also allow them to distance themselves from their own fantasies and actions in everyday life.
So in East Kassel, where the people enjoying themselves behind closed doors in dubious circumstances are also the people—just like you and I—spending their days strolling through critical commentary on highly intellectual art, rifts are opening up in a society that continues, with bigoted two-facedness, to subscribe to an economy in which the customer is king and dictates the conditions in which the destitute and those living in the shadow of this economy continue to suffer.
Ein Projekt von
mit Renée Tribble/TU Dortmund
und den Initiativen von Kassel Ost